Warum gehen Menschen fremd? Wir kennen diese Frage wahrscheinlich von vielen Paaren, die sich aus der Antwort eine Erklärung für ein Verhalten erhoffen, das sie ratlos dastehen lässt. Denn oft ist es für die Fremdgehenden selbst ein Rätsel, was genau sie dazu veranlasst hat. Diese Studie untersuchte speziell Männer, die fremdgegangen waren. M.E. stellt die Originalstudie faszinierend den Sog dar, in den die Männer geraten, mitsamt ihren Bewältigungs- und Rechtfertigungsstrategien. Es tut mir leid, dass ich aus urheberrechtlichen Gründen hier nur eine kurze Zusammenfassung anbieten kann. Die komplette Studie kann beim Autor:innen-Team über ResearchGate angefragt werden (Link weiter unten).

Der folgende Beitrag wurde im Journal of Marital and Family Therapy veröffentlicht. Dieses Journal erscheint im Wiley Verlag und widmet sich speziell der systemischen Familientherapie. Das Journal ist nach Angaben des Finanziers, der American Association for Marriage and Family Therapy, peer-reviewed.

Justifying by degrees: A grounded theory of men’s decision-making process in infidelity.

Zitation: Perez C, Fife ST, Eggleston D, Whiting JB. Justifying by degrees: A grounded theory of men’s decision-making process in infidelity. J Marital Fam Ther. 2023 Oct;49(4):879-898. doi: 10.1111/jmft.12663. Epub 2023 Aug 28. PMID: 37641445.

Dieser wissenschaftliche Journalartikel stellt eine Grounded Theory der Entscheidungsfindung von Männern, die in einer heterosexuellen, festen Beziehung Untreue begangen haben, vor.

Der Artikel beginnt mit einer Überprüfung der Literatur über Untreue, die verschiedene Definitionen, Prävalenzraten, Auswirkungen und Gründe für Untreue diskutiert. Die Autor:innen stellen fest, dass es nur wenige empirische Studien über den Entscheidungsprozess hinter Untreue gibt, insbesondere aus der Perspektive der Männer, die Untreue begangen haben. Sie argumentieren, dass ein besseres Verständnis dieses Prozesses für die Entwicklung effektiver Behandlungsmodelle für Paare, die von Untreue betroffen sind, wichtig ist.

Um diese Forschungslücke zu schließen, verwenden die Autor:innen eine qualitative Methode, die als Grounded Theory bekannt ist, um eine Theorie aus den Erfahrungen der Teilnehmer abzuleiten. Sie interviewten 13 Männer, die in einer festen, heterosexuellen Beziehung Untreue begangen hatten, und analysierten ihre Antworten mit Hilfe von Kodierung, Kategorisierung und Konzeptualisierung. Sie stellten sicher, dass ihre Forschung ethischen Standards entsprach und dass sie die Gültigkeit und Zuverlässigkeit ihrer Ergebnisse überprüften.

Die Analyse der Interviews ergab eine Grounded Theory der Entscheidungsfindung, die aus vier Hauptkategorien besteht: der Voraffär-Kontext, das Schneeballeffekt, das motivierte Denken und die Nachaffär-Entscheidungen. Die Autor:innen beschreiben jede Kategorie im Detail und illustrieren sie mit Zitaten aus den Interviews.

Die Voraffär-Kontext bezieht sich auf die Faktoren, die die Männer für anfällig für Untreue hielten, wie z.B. Beziehungsprobleme, unerfüllte Bedürfnisse, Langeweile, Stress, Gelegenheiten und Versuchungen. Die Schneeballeffekt bezieht sich auf die Dynamik, die die Männer in die Affäre hineinzog, wie z.B. die Anziehungskraft auf die Affärenpartnerin, die Eskalation der Intimität, die Abhängigkeit von der Affäre und die Vermeidung der Konfrontation mit der Hauptpartnerin. Das motivierte Denken bezieht sich auf die kognitiven und emotionalen Prozesse, die die Männer benutzten, um ihre Untreue zu rechtfertigen und zu rationalisieren, wie z.B. die Verleugnung der Schuld, die Verzerrung der Realität, die Verschiebung der Verantwortung und die Aufrechterhaltung eines positiven Selbstbildes. Die Nachaffär-Entscheidungen beziehen sich auf die Folgen der Untreue und die Wahlmöglichkeiten, die die Männer hatten, wie z.B. die Beendigung oder Fortsetzung der Affäre, die Offenlegung oder das Verheimlichen der Untreue, die Suche nach Hilfe oder die Bewältigung allein und die Wiederherstellung oder Auflösung der Hauptbeziehung.

Der Artikel endet mit einer Diskussion über die klinischen Implikationen der Grounded Theory für die Therapie von Paaren, die von Untreue betroffen sind. Die Autor:innen schlagen vor, dass die Therapeuten die Entscheidungsfindung der untreuen Partner verstehen und herausfordern sollten, indem sie ihnen helfen, ihre Rechtfertigungen und Rationalisierungen zu erkennen und zu überwinden, ihre kognitiven Verzerrungen zu korrigieren, ihre Schuld und Reue zu bearbeiten, ihre Beziehungsgeschichte und -dynamik zu erforschen, ihre Bedürfnisse und Werte zu klären, ihre Bindungsstile und -verletzungen zu berücksichtigen und ihre Verpflichtungen und Ziele für die Zukunft zu definieren. Die Autor:innen weisen auch auf die Einschränkungen ihrer Studie hin, wie z.B. die geringe Stichprobengröße, die mangelnde Diversität der Teilnehmer, die retrospektive Natur der Daten und die mögliche Verzerrung durch soziale Erwünschtheit. Sie schlagen vor, dass zukünftige Forschungen die Entscheidungsfindung von Frauen, die Untreue begangen haben, sowie die Perspektiven der betrogenen Partner untersuchen sollten.